Zu teuer, zu ineffizient, zu bürokratisch, zu langsam: Das Südtiroler Gesundheitswesen steht seit Monaten im Fokus. Auch Prof. Dr. Friedrich Oberhollenzer verfolgt die Berichterstattung zum Thema. Die PZ hat mit dem renommierten Mediziner aus Bruneck über seine Sicht der Dinge gesprochen. Im Interview erzählt der 88-Jährige, warum er die kleinen Geburtenstationen nicht geschlossen hätte, was die Ärzte heute anders machen müssten und ob er in seinem Leben etwas bereut.

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Friedrich Oberhollenzer im Kreise seiner Familie: Ehefrau Elisabeth verstarb 2008 völlig unerwartet. Die Söhne Martin und Rainer sind in die Fußstapfen des Vaters getreten und Mediziner geworden, Tochter Angelika arbeitet als Rechtsanwältin, Sohn Christoph ist Direktor des Landesfeuerwehrverbandes und Sohn Georg Vizedirektor der Raiffeisenkasse Bruneck.

PZ: Herr Oberhollenzer, es war keine Selbstverständlichkeit, dass ein Bub aus dem Ahrntal in den Fünfzigerjahren Medizin studieren darf. Warum wollten Sie Arzt werden?

Friedrich Oberhollenzer: Im Tal gab es damals den Gemeindearzt Dr. Oberkofler. Jeder kannte ihn, auch mich hat er einmal untersucht. Er hatte einen Topolino, aber er konnte nicht fahren. Ich konnte fahren, hatte aber keinen Führerschein. Und wissen Sie was? Ich habe ihm angeboten, dass ich das übernehmen kann und habe ihn dann zu den Visiten kutschiert. Natürlich haben wir im Auto über allerhand geredet, auch über seine Arbeit als Arzt. Ich erinnere mich gerne an eine besondere Episode. Im Jahre 1945 behandelte er einen älteren Patienten mit schwerer Blutvergiftung. Dr. Oberkofler besuchte ihn täglich zu Hause. Irgendwann sagte er zu mir „Friedrich, ich weiß, dass die Amerikaner ein neues Medikament haben, das für die Alliierten reserviert ist. Könnten wir nicht nach Bruneck fahren und mit dem Kommandanten der Besatzung sprechen und verhandeln?“. Das haben wir getan und mit meinen paar Brocken Englisch konnten wir erreichen, ein Fläschchen Penicillin zu erhalten. Mit dem Medikament in der Tasche sind wir sofort zum Patienten nach Prettau gefahren und haben es ihm initiiert. Bei der Kontrolle am nächsten Tag saß der Mensch sozusagen gesund im Bett, so wirksam war es. Meine Entscheidung, Medizin studieren zu wollen, war davon stark beeinflusst. Es war nicht leicht, die Eltern davon zu überzeugen. Der Vater war Kaufmann - es war für ihn eine ganz andere Welt. Gottseidank war er dann doch dafür zu haben und hat um Studienbeihilfe angesucht. 

 

Sie haben in Padua studiert, danach vier Jahre in München gearbeitet und schließlich als junger Internist ihre eigene Praxis am heutigen Gilmplatz eröffnet. 

Keine zwei Jahre später kam die Anfrage, ob ich nicht im Krankenhaus arbeiten möchte. Ich habe kurz überlegt und dann zugesagt. Die Stelle war verlockend. Ich durfte die medizinische Abteilung und das Labor im Pustertal aufbauen, indem ich mein in München erworbenes Wissen hier umsetzen konnte. Aufgrund meiner Ausbildung in Deutschland war ich imstande, jede Laboruntersuchung technisch durchzuführen. Es gab damals ja noch keine Labortechniker. 

 

In Ihren Jahren am Krankenhaus haben Sie sich ein großes Renommee erarbeitet. Besonders bekannt wurden Sie durch die so genannte „Bruneck-Studie". Wie ist das Projekt entstanden?

Dr. Gerstenbrand, der Direktor der neurologischen Universitätsklinik Innsbruck, rief eines Tages bei mir an und fragte, ob Dr. Johann Willeit, mein Assistenzarzt, in Innsbruck eine freie Neurologenstelle antreten kann. Ich sagte ja, obwohl das für uns bedeutete, dass wir ihn vorübergehend verlieren. Das hat dem Kollegen aus Österreich imponiert, und so ist eine wunderbare Zusammenarbeit der beiden Kliniken entstanden. Dr. Willeit hat im Übrigen jedes freie Wochenende von sich aus darauf verwendet, hier in Bruneck die neurologischen Patienten zu untersuchen. So sind wir alle in Kontakt geblieben und haben viel über mögliche Projekte gesprochen. Irgendwann hatten wir die Idee zur Studie. Nach einer langen Vorbereitungszeit gingen wir am 15. Juli 1990 an den Start. Durch Zufallsprinzip wurden 1000 Probanden ausgewählt, zur Hälfte Männer und Frauen; 94 Prozent haben schlussendlich mitgemacht. Es ist äußerst selten, dass eine Studie auf eine solche Teilnahmequote kommt. Die Studie ist vor einigen Wochen nach 25 Jahren abgeschlossen worden. 

 

Die „Bruneck-Studie" hat sich zum Ziel gesetzt, die Probanden im Hinblick auf ihr Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko zu untersuchen. Was sind für Sie die überraschendsten Erkenntnisse?

Am meisten überrascht hat mich die große Resonanz: 150 wissenschaftliche Arbeiten sind zum Thema geschrieben und in den renommiertesten Fachzeitschriften, etwa in Amerika,  publiziert worden. Wir haben von Beginn an mit allen Probanden gesprochen und ihnen dazu geraten, ein gesundes Leben zu führen und sie über notwendige Vorbeugungsmaßnahmen aufgeklärt. Schon Aufklärung kann vorbeugen. 

 

Haben Sie selbst ein gesundes Leben geführt?

Ich habe lange geraucht, was natürlich ein großer Nachteil ist. Vor Beginn der Studie habe ich es aber aufgegeben, weil ich gesund leben wollte. Das war eigentlich nicht schwierig, weil ich überzeugt davon war. 

So ist es mit vielen Dingen im Leben. Nur, wenn man selbst daran glaubt, kann man sie umsetzen. 

 

Es gab Zeiten, da haben Sie Tag und Nacht fast nur gearbeitet. Bereuen Sie etwas?

Ich hatte zu wenig Zeit für die Familie und für mich selbst. Meine Frau Elisabeth war mein großes Glück. Ich habe immer gesagt, du bist die Innenministerin, ich der Außenminister. Sie hat zuhause alles geregelt und unsere fünf Kinder betreut. Es freut das Vaterherz, dass sie heute alle gesund und erfolgreich sind. 

 

1966 sind Sie dem Tod von der Schippe gesprungen.  

Damals hatte nicht jeder Gemeindearzt ein Gerät, mit dem er ein EKG schreiben konnte. Deshalb wurde ich zu einem Patienten mit Herzversagen nach Corvara gerufen. Meine Frau, eine Krankenschwester und ich fuhren im Taxi ins Gadertal, das EKG-Gerät hatten wir mit dabei. Wir konnten dann auch eine Diagnose stellen und die geeignete Therapie durchführen, wodurch der Mann überlebt hat. Gegen Mitternacht machten wir uns auf den Rückweg. Auf einmal ging alles ganz schnell: Eine Lawine ging ab und riss das Auto von der Straße in die Gader. Meine Frau wurde an die Oberfläche geschleudert und konnte Hilfe holen. Wir haben im Wageninneren aus dem letzten Loch gepfiffen. Die Feuerwehr aus St. Martin in Thurn hat uns dann befreit. Erlebnisse wie diese prägen sich ein ganzes Leben ein. Es hätte an diesem Tag auch alles anders kommen können. 

 

1989 sind Sie in Pension gegangen – und haben sich mit einer eigenen Praxis selbstständig gemacht. Sie haben bis 2014 gearbeitet. Freiwillig bis 86 arbeiten, das würden nicht viele tun. 

Nicht mehr zu arbeiten, wäre für mich nicht in Frage gekommen. Es war eine große Entlastung, nicht mehr in den Krankenhausalltag eingebunden zu sein und nicht mehr die große Verantwortung tragen zu müssen. Als Freiberufler konnte ich mir meine Zeit freier einteilen, was ich nach all den Jahren sehr genossen habe. 

 

Würden Sie heute als junger Mediziner noch einmal Internist werden?

Auf jeden Fall, auch wenn die Innere Medizin früher viel mehr Bereiche umfasst hat. Mir ist es damals gelungen, die Endoskopie und den Ultraschall sowie die Gastro- und Koloskopie in Bruneck einzuführen. Das waren große Schritte. Es war eine Genugtuung, dass ich das in dem kleinen Krankenhaus bewerkstelligen konnte und auch durfte. Es hat auch viel Verantwortung bedeutet und schlaflose Nächte gebracht. 

 

Über eine Milliarde Euro Kosten, unzufriedenes Krankenhauspersonal: Steht es wirklich so schlimm um die Sanität in Südtirol?

Ich verfolge die Diskussionen; es vergeht ja kaum ein Tag ohne irgendeinen Artikel in der Zeitung. Ich glaube, dass unsere Bürger in den letzten fünf bis zehn Jahren aufgewacht sind und an Entscheidungen mehr teilnehmen wollen, auch im Gesundheitswesen. Es wird oft sehr negativ darüber gesprochen. Das war zu meiner Zeit noch ganz anders. Die Menschen hatten mehr Vertrauen in die Ärzte. Es ist nicht alles schlecht, aber es ist auch nicht mehr so wie es einmal war. Wir haben versucht, die Leute gut zu betreuen und die Wartezeiten möglichst kurz zu halten. 

 

Gerade das ist heute einer der großen Kritikpunkte. Warum müssen die Patienten oft drei Monate auf einen Termin warten?

Weil der gute Wille fehlt. Ich habe immer alle Patienten erledigt und nie gesagt, den oder die nehme ich und andere nicht. Wir haben auch nicht so sehr auf die Uhr geschaut. Am Abend oder an den Wochenenden zu arbeiten, hat einfach dazu gehört. In der Anfangszeit gab es auch noch keine Zeiterfassung. Ich muss dazu sagen, dass ich es gerne getan habe und eine große Befriedigung daraus gezogen habe.  

 

Was ist der Unterschied zwischen einem Mediziner früher und heute?

Früher war es eine Berufung, heute sind die meisten Ärzte im Grunde Beamte. Ich meine das nicht abschätzig. Ich konnte damals alle neuen Therapien und Verfahren hier einführen und mit vorne dabei sein. Für die Ärzte ist es heute viel schwieriger, neue Impulse zu setzen. Sie müssen sich auch viel mehr mit bürokratischen Anforderungen herumschlagen.

 

Hätten Sie die kleinen Geburtenstationen erhalten?

Auf jeden Fall. Und zwar nicht nur wegen der Nahversorgung. Es gibt gute Leute, die auch in kleinen Strukturen tadellos arbeiten. Der Zeitgeist geht heute aber leider in eine andere Richtung. 

Interview: Verena Duregger

 

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Es gab Zeiten, da war Dr. Oberhollenzer fast Tag und Nacht im Dienst. Die Patienten brachten ihm dafür große Wertschätzung entgegen

 

Zur Person

Friedrich Oberhollenzer, Jahrgang 1928, ist das sechste von elf Kindern einer Kaufmannsfamilie aus St. Johann. Nach der Matura am Humanistischen Gymnasium in Meran studiert er Medizin an der Universität von Padua. 1955 promoviert er und arbeitet in der Folge ein Jahr als Assistenzarzt an der chirurgischen Klinik „Maria Theresia“ und drei Jahre an der medizinischen Universitätsklinik links der Isar in München. Die Liebe zieht Oberhollenzer zurück in die Heimat: 1959 heiratet er Elisabeth Kauer. Zunächst arbeitet der Internist in seiner eigenen Praxis am Gilmplatz, bis 1963 der Ruf ans Krankenhaus Bruneck erfolgt, wo er Leiter der neu aufzubauenden Medizinischen Abteilung wird. Bereits vier Jahre später steht er der Abteilung als Primar vor. Oberhollenzer verschreibt sein Leben der Medizin: Er wird Sanitätsdirektor des Krankenhauses Bruneck, baut den medizinisch-sozialen Dienst der Sanitätseinheit Ost und die Krankenpflegeschule auf, sowie das Ambulatorium für die Vorbeugung und Prophylaxe von Hepatitis und AIDS. Er führt verschiedenste Therapiemethoden am Krankenhaus Bruneck ein, darunter die gastroenterologische Endoskopie. 1990 gründet er den „Pustertaler Verein zur Vorsorge der Herz- und Hirngefäßerkrankungen“  und führt die so genannte „Bruneck-Studie“ in Zusammenarbeit mit der Uniklinik Innsbruck durch. 1993 erhält er das Ehrenzeichen des Landes Tirol, 1999 verleiht ihm der österreichische Bundespräsident den Berufstitel „Professor“. Der Vater von fünf Kindern lebt in Bruneck.

 

 

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