Der Besucher an der Tür blieb abrupt stehen. Starr vor Erstaunen blickte er in den Raum vor ihm. Das Zimmer, rechteckig mit einem Fenster an der Gegenseite und einer Balkontür an der anderen, war in zwei Hälften geteilt. Eine dicke durchsichtige Nylonplane hing auf der ganzen Länge von der Decke herab und nahm einen Teil des Tageslichts weg.
Auf einer Seite der ungewöhnlichen Trennwand stand ein Tisch, vollgestopft mit Farbpaletten, Näpfchen und Tuben, Fläschchen und Schleifpapier, Fixiermittel und Lösemitteldosen, Pinseln, Spachteln, Tüchern und Schwämmen. 

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Frau mit Hund

Aber die Nylonwand zog alle Blicke auf sich. In Richtung Tisch standen steif zwei Stoffärmel vor, an ihre Enden hatte jemand dicke Leinenhandschuhe angenäht. Oberhalb ein ins Nylon geschnittenes Rechteck, darin saß holzumrahmtes Glas.  An der Seite baumelte ein Paar Brillen, sie sahen aus wie Fliegerbrillen im 1. Weltkrieg.  Dahinter ein einfacher Holzstuhl mit harter, steiler Rückenlehne, darüber ein Overall und eine Haube mit einer Öffnung nur für die Augen. 

An der anderen Wand drängten sich dicht an dicht zahllose Leinwände und Holzplatten, mit oder ohne Rahmen, manche fertig bemalt, andere halbfertig, wieder andere mit Aufzeichnungen bedeckt oder die Bildeinteilung mit Bleistiftstrichen skizziert. Dieser Raum, der an eine geheimnisvolle Alchemistenküche früherer Zeiten erinnerte, war über acht Jahre lang das Atelier von Bruno Nicolussi Zatta. 

 

Oberstadt

Die Oberstadt

 

Große Gewissenhaftigkeit

Der Maler, Jahrgang 1923, geboren in Lusern, der deutschen Sprachinsel im Trentino, war nach dem 2. Weltkrieg drei Jahrzehnte lang Zonengeometer und damit Oberaufseher der Landesstraßenbauten im östlichen Südtirol. Man sagte ihm nach, er habe sein Amt mit großer Gewissenhaftigkeit und – im öffentlichen Dienst nicht immer selbstverständlich – viel Hausverstand ausgeübt. Dabei verschlug es ihn an verschiedene Orte, ehe er sich mit seiner Frau Hedwig Steiner in Bruneck niederließ, wo sie sich ein Haus bauten, das er, wie die Häuser vieler seiner Freunde, selbst projektiert hatte. 1977, nur 54jährig, verließ er den Landesdienst, um sich ganz und gar seiner neuen Leidenschaft zu verschreiben: dem Malen. 

Seine Künstlerkarriere hatte schon vorher mit konsequentem Studium und Experimentieren im Umgang mit Farben begonnen. Als Geometer Meister der geometrischen Form, stützte sich Bruno Nicolussi bei den Farben auf einen berühmten Lehrmeister: Johannes Itten, Künstler und Bauhaus-Mitglied, und dessen berühmtes Werk „Kunst der Farben“. Itten  sagte von sich selbst, ihn „interessierte als Maler das Zusammenwirken von Form und Farbe“.  Das war es auch, was Bruno Nicolussi Zatta jetzt zu seinem Lebensinhalt machte. 

 

Eigene künstlerische Ausdrucksform

Zuerst arbeitete der Klee- und Vasarely-Bewunderer vorwiegend mit einzelnen Farben in allen Varianten in abstrakten Bildern (Blau abstrakt). Schnell entwickelte er eine eigene künstlerische Ausdrucksform, wandte sich gegenständlichen Motiven zu, ging aber über die gegenständliche Malerei hinaus. Er brach wie die Kubisten die Form auf und wandelte sie in geometrische Elemente um, die er neu zusammensetzte. So erzielte er überzeugende neue optische Wirkungen und unerwartete Lichteffekte. Die Palette der Grundfarben spielte er in allen Schattierungen und Mischungen ebenso durch wie ihre Wirkung in Verbindung mit unterschiedlichsten geometrischen Formen (Musikinstrumente, Bruneck blau). Besonders häufig verwendete er die Kugel, das Dreieck, die Kreuzform und kleine Quadrate oder Rechtecke. 

Manche Menschen erfassen die Welt vorwiegend über Töne, andere über Zahlen, wieder andere über Worte. Bruno Nicolussi erfasste sie über die Geometrie und Farben. Gerade die oft winzigen geometrischen Formen, die meist wirken wie eine filigrane Dekoration, zeigen, dass die Welt für ihn eine aus geometrischen Teilen und Teilchen bestehende Erscheinung war, die er schöpferisch interpretierte. Diese seine künstlerische Schwerarbeit erbrachte wundervolle Resultate.  

 

Tiefe Religiosität

Bruno Nicolussi war ein tief religiöser Mann. Viele der Bilder stellen Szenen aus  dem Leben Jesu dar (Bethlehem, Hirten), andere zeigen Gebäude und Stadtansichten von Bruneck und Umgebung (Bruneck blau, Rainturm, Schlossberg, Oberstadt). Immer wieder amüsierte er sich ganz augenscheinlich bei der Darstellung komischer oder origineller Alltagsszenen (Nach dem Kirchgang am Sonntag, Leser, Freundschaft, Frau mit Hund). Häufig befasste er sich auch mit ernsten Alltagssituationen (Arzt und Patient). Dann und wann unternahm er Abstecher zu anderen Stilformen des 20. Jahrhunderts und zur Farben- und Formensprache anderer Künstler. In seinen Bildern sichtbar wurde der Einfluss großer Vorbilder aus dem Expressionismus und der Op Art, aber z. B. auch die Auseinandersetzung mit Karl Plattner.  Einzelpersonen treten in dieser Zeit stärker in den Vordergrund, die Köpfe sind runder, die Farben dunkler, Braun und Grün häufiger. Nach solchen künstlerischen Ausflügen kehrte der Künstler aber immer wieder zu seinem ganz persönlichen Stil zurück.

 

Leidenschaft, die Leiden schafft

Die Leidenschaft, ja Besessenheit, mit der sich Nicolussi von fünf Uhr früh bis mitten in der Nacht der Malerei widmete, forderte sehr hohen Zoll. Schon nach wenigen Jahren befielen ihn zahlreiche Allergien, Ausschläge am ganzen Körper – Augenleiden und viele andere Beschwerden plagten ihn Tag und Nacht. Er testete ab diesem Zeitpunkt jede  Farbe vor ihrer Verwendung auf verschiedenen Trägern und auf der eigenen Haut, um zu sehen, welche Folgen sie am Körper auslösten (Abb. Versuchsplatte). Im Atelier errichtete er immer kompliziertere Vorrichtungen, um jeden auch noch so winzigen Kontakt zwischen Farben und Körper zu verhindern. Der Arbeitsraum wurde zu einer Isolierzelle, mit dem Malen aufzuhören, kam aber nie und unter keinen Umständen in Frage. 

 

Kostbare Kleinode

Seine Werke hütete Bruno Nicolussi wie kostbare Kleinode. Nie war ihm eines perfekt genug; immer wieder versuchte er, sie zu verbessern, zeitlebens weigerte er sich, auch nur ein einziges davon zu verkaufen. Mit ihnen verbrachte er seine Tage, ihnen widmete er seine Zeit und Aufmerksamkeit und verbarg sie vor neugierigen Augen. 

Als Bruno Nicolussi im August 1985 an einer unheilbaren Lymphdrüsenkrankheit verstarb, hinterließ er Hunderte von faszinierenden Bildern, Stapel um Stapel halb fertiger und mit Skizzen bedeckter Leinwände und Bleistiftentwürfe auf Papier und auf Karton. 

Der hohe künstlerische Wert seiner Werke wurde sofort erkannt, als sich seine Familie 1986 dazu entschloss, einen Teil der Bilder der Öffentlichkeit vorzustellen. Fachleute wie Prof. C. Pack aus Wien, Carl Nicolussi Leck, Heinz Zelger, Künstler wie Siegfried Pörnbacher, Albert Mellauner und viele andere waren erstaunt und begeistert, das Medieninteresse groß. Heute befinden sich die Werke fast ausnahmslos in Privatbesitz und sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. 

Im August 2015 jährt sich der Tod des Bruno Nicolussi Zatta zum dreißigsten Mal. Bisher haben die öffentlichen Einrichtungen Brunecks leider nur wenig Notiz von diesem außergewöhnlichen, aber das Licht der Öffentlichkeit scheuenden Künstler genommen. Vielleicht ist jetzt die Zeit reif für eine intensivere Auseinandersetzung mit seinem großartigen Werk.                     

Margarethe Berger

 

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